Sonntag, 11. Mai 2014

Ziellos

"Der Weg ist das Ziel." - ein abgedroschener Satz. 
Und doch ist er wahr. 
Jedenfalls teilweise. 
Wie es allgemeine Wahrheiten eben so an sich haben.
_____

Letztes Wochenende war die Taufe meines Neffens in Salzburg. 
(Wir erinnern uns: Der Grund für mich, nach Süden los zu reiten.)
Da Sir Felix und ich noch meilenweit (!) von Salzburg entfernt sind, 
habe ich mich auf die zielstrebigen eisernen Schienen gewagt und bin mit dem Zug gefahren. 

In Salzburg angekommen, lerne ich die Oma meines bald-Schwagers kennen. 
Ich wohne bei ihr im Dachboden. 
Wir verstehen uns blendend und diskutieren mein Taufoutfit:
Dirndl vs Lederbüxx
(Es wurde das Dirndl.)

Dirndl vs Lederbüxx
Am nächsten Morgen ist die Taufe.
Meine erste Taufe. 
Ich bin nicht kirchlich, mag aber Kirchen.
Ich glaube und hoffe, vertraue und liebe. 
Aber eine personifizierte Geschichte und Regeln dafür brauche ich nicht. 

Das Ritual der Taufe rührt mich dennoch an. 
Wir halten inne und rücken zusammen.
Der Pfarrer ist ein wahrer Segen für den kleinen Maximilian und alle Beteiligten. 
Er ist kein überkandidelter Kirchenmann. 
Er ist menschlich und witzig. 

Maxis Taufe
Maxi überlebt das Taufbad und die Salbung ohne mit der Schnute zu zucken. 
Seine großen Kulleraugen folgen dem Wasser, 
das von seinem Kopf zurück in die Schüssel perlt.
Wie es sich für einen halben Hamburger gebührt, scheint er eine wahre Wasserratte zu sein. 

Mit meiner neuen Bonus-Oma am Arm verlasse ich die Taufe 
mit einem sehr warmen Gefühl im Bauch. 
Es ist wunderschön zu sehen, 
wie meine Schwester nicht mehr "nur" Schwester ist.
Sie ist nun von ganzem Herzen Mutter. Und glücklich. 

Maxis Groß-Tante (?) Doris schenkt mir eine ihre Mützen, 
meine neue Bonus-Oma ein Flanellhemd ihres verstorbenen Mannes. 
Bonus-Oma
Mit diesen Gaben gesegnet fahre ich zurück zu Sir Felix, 
der derweilen bei Uschi in Lützeroda auf mich gewartet hat. 

Uschi hat mich vom Feld aufgelesen. 
"Wo geht´s hin, was machst du, wo schläfst du heute?", fragte sie mich aus ihrem Auto heraus, 
als ich abends am Feldrand Richtung Cospeda entlang schlenderte.
"Weiß ich noch nicht.", war meine Antwort.

"Dann kommst Du zu uns. Lützeroda. Olthoff. Die Leute wissen bescheid."

Imperative. 
Uschi ist eine Frau der Imperative. 
Energisch und herzlich. 
Sie und ihr Mann sind sehr engagiert im Pferdereitsport. 
Beide waren Turnierreiter und der Name "Olthoff" ist (wie ich später feststelle)
tatsächlich flächendeckend bekannt.
Ihre Enkelin Lisa führt die Tradition fort und ist erfolgreich im Dressursport.

Ich bekomme die Blockhütte auf ihrem Grundstück und 
Sir Felix einen separaten Auslauf mit Weidegang. 
Uschi bekommt mit ihren 76 Jahren 2 Dreadlocks.
Uschi (76) mit ihren zwei neuen Dreadlocks
Ben und Uschis Tulpen
Ich bekomme von Uwe ein bisschen Drill eingehaucht:

Um 8 Uhr Frühstück. 
Um 12 Uhr Mittag. 
Um 16 Uhr Kaffee. 
Um 18 Uhr Abendbrot. 

Ai Ai Sir. 
Ich danke euch beiden für eure Gastfreundschaft und Herzlichkeit! 
Vielleicht reite ich ja doch noch nach Freiburg und werde Teil der Familie ;)

Uschis Sohn Uwe-Jan (UJO) ist Sattler. Er baut Westernsättel.
Und nachdem mir der Abdruck  des Barefoot Sattels auf Sir Felix Rücken
nicht mehr gefallen hat, kaufe ich Ujo spontan einen Sattel ab,
der perfekt passt.

Neuer Sattel - UJO
Ich gehe schlafen und will am Tag darauf weiter reiten.
Am  Morgen merke ich jedoch, dass sich etwas verändert hat. 

Ich habe kein Ziel mehr. 

Eine starke Ruhe ergreift von mir Besitz. 
Es ist die Ruhe vor dem Sturm. 

Dieser bricht kurz darauf los:

Wohin reite ich denn jetzt? 
Was mache ich hier eigentlich? 
Warum mache ich das? 
Wo, wie was warum....und überhaupt...?

Wir wachsen in einer Gesellschaft auf, in der wir darauf trainiert werden, uns Ziele zu setzen. 
Wenn wir sie erreicht haben, müssen wir uns neue stecken. 
Sich ein Ziel setzten. Es erreichen. 
In den meisten Köpfen ist Ziellosigkeit negativ konotiert.

Für mich ist es ein Luxus und eine Herausforderung. 
Ich kann - und muss - mich auf dasjenige, was mir begegnet, einlassen.
Ich habe die Wahl. Und ich wähle. Jeden Tag. 
Jede Stunde. Alle paar Minuten. 
"Links oder rechts?" 
"Pause oder weitergehen?" 
"Laufen oder reiten?" 

Für die meisten Leser dieses Blogs wäre es wahrscheinlich spannender,
genau zu wissen, wann ich wo sein will, um mitfiebern zu können:

,,Schafft sie es? Oder schafft sie es nicht?"

Ich könnte eine irre Spannungskurve aufbauen. 
Katastrophen erfinden.
Schicksalsschläge bemühen und eine Fotolovestorie einbauen, 
um Klicks zu generieren und Google Werbung zu schalten. 
Damit würde ich vielleicht sogar Geld verdienen. 
Aber das kann und will ich nicht. 
(Tex, falls Du dies hier liest…es tut mir leid! ;) )

Um mein aufbrausendes Gehirn zu beruhigen serviere ich ihm einen Lösungsvorschlag:

"Wir haben vielleicht kein Ziel mehr, aber wir haben eine Richtung:
Salzburg. Unsere Bonus-Oma freut sich bereits auf ein Wiedersehen."

Ich sattle Felix mit unserem neuen Sattel und wir setzten uns in Bewegung. 
Saaletal

Erneut müssen wir feststellen, dass wir Flachlandindianer sind.
Und hier gibt es Hügel. 
Am Nachmittag sind wir beide erschöpft.

Wir kommen nach Münchenroda. 
Wir treffen Raimund. Wir treffen Jaqueline. 
Wir treffen Tiff, Viktor, Arthur, Luise, 
Whitney, Carmen, Larissa und Hans. 
Wir dürfen bleiben.

Die Kinderarche nimmt uns herzlich auf.

Felix bekommt drei Stuten, die sich sehr über ihren neuen Macker freuen.
Alle freuen sich. Außer Ziegenbock Hansi.
Der ist über den männlichen Herdenzuwachs verärgert
und kaut seinen Frust an dem Schweifhaar seiner Hoheit ab. 
Ich bekomme das "Gästezimmer" - eine im Dachgiebel ausgebaute
Einliegerwohnung mit Ofen und Küche. 
Die Kinderarche sucht eine Reitlehrerin.  Bis August. 
Komfort verlockt. 

Hansi der Ziegenbock vergreift sich an dem Schweif seiner Hoheit
Whitneys Schnurrbart
Doch am nächsten Tag reite ich mit Felix aus und merke auf der halben Strecke, 
dass ich keinen Kreis reiten will, sondern weiter.
Da weiß ich, dass ich nicht bleiben werde.
Nicht bis August. 
Aber für 2 Wochen. 

Der Grund: 
Tiffany hat Angst.
1. Vor ihrer Stute und
2. vor dem Reiten.

Sie ist vor ein paar Jahren runtergefallen. 
Und nicht wieder aufgestiegen.
Seine Hoheit und ich beschließen zu vermitteln.

Sir Felix kramt seine pädagogischen Kenntnisse und den toten Indianer heraus
...und schwupp die wupp liegt eine lachende Tiffany (und Luise) auf seinem Rücken. 
Am nächsten Tag sitzt sie auf ihrer Stute und heute, 4 Tage später reitet Tiffany Carmen,
ohne dass ich sie an der Longe habe. 

Luise, Tiffany (zwei tote Indianer) und Sir Felix
Tiffany und Carmen
Das Lachen und Leuchten in ihren Augen beruhigen mein zuvor so aufgewühltes Gehirn.
"Die Begegnungen am Wegesrand, sind unsere unendliche Zielkurve, bis das Ziel von ganz alleine auftaucht."
- Dieser Satz ist schon mehr wahr, so man "wahr" denn steigern kann.
Charlie

2 Kommentare:

  1. Wunderschön, alles, was Du geschrieben hast, von der Taufe über die Ziellosigkeit bin hin zum wieder gewonnenen Vertrauen des kleinen Mädchens...ich scheiß auf Spannungskurven...berichte einfach weiter von Deinem Weg, ich begleite Dich :-)

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    1. :) Das ist schön.
      Einen lieben Gruß an Pferd und Hund! Ahoi.

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